«Müssen wir die Löcher wirklich stopfen?»

Die demografische Entwicklung bringt die Altersvorsorge in der Schweiz zunehmend in Schieflage. Tiefgreifende Reformen sind nötig, aber politisch unbeliebt. Veronica Weisser, Ökonomin und Vorsorgeexpertin bei der UBS, nimmt Stellung und spricht dabei auch unbequeme Themen an.

Veronica Weisser, Sie setzen sich seit Jahren mit den Schweizer Vorsorgewerken auseinander. Wo sehen Sie heute die grössten Probleme?
Veronica Weisser: Die drei Säulen in der Schweizer Vorsorge haben ganz unterschiedliche Treiber, je mit ihren eigenen Herausforderungen. In der ersten Säule ist das Verhältnis der Personen, die in die Kassen einzahlen, zu denjenigen, die Renten beziehen, entscheidend. Die AHV ist aufgestellt wie ein Schneeballsystem. Der Schweizer oder die Schweizerin bezahlt deutlich weniger in die AHV ein, als er oder sie durchschnittlich bezieht. Dieses System funktioniert nur, wenn immer mehr Personen einzahlen. Da aber die Geburtenrate seit den 70er-Jahren drastisch gesunken ist, bezahlen immer weniger Personen in die AHV ein, im Vergleich zu der Anzahl, die Renten beziehen. Auch wenn dies durch die Zuwanderung abgeschwächt wurde, reicht die Zuwanderung bei Weitem nicht aus, um unsere AHV zu finanzieren. Weitere Treiber sind die Rentenbezugszeit und die Lebenserwartung. Lag die durchschnittliche Bezugsdauer bei der Einführung der AHV im Jahre 1948 noch bei 13 Jahren, so liegt sie für Personen, die heute das Rentenalter erreichen, bei knapp 24 Jahren. Das Pensionsalter ist seit Einführung der AHV aber nicht gestiegen, die Anzahl Erwerbsjahre sind gleichgeblieben, während sich die Bezugsjahre beinahe verdoppelt haben. Zusätzlich wurden die AHV-Renten deutlich angehoben, ihre Kaufkraft liegt viermal höher als 1948. Das geht nicht auf. Trotz verschiedensten Zusatzfinanzierungen, zum Beispiel durch Mehrwertsteuer, Tabaksteuer und so weiter, sowie durch den Bundeshaushalt hat die AHV seit 2014 ein Umlagedefizit. Und dieses wird sich mit der kommenden Pensionierung der Babyboomer-Generation, die die AHV heute noch massgeblich finanziert, weiter vergrössern. Wenn wir das Loch in der AHV immer weiter mit immer mehr Geld stopfen, belasten wir zunehmend die Jungen, die an der Unterfinanzierung der AHV keinerlei Schuld trifft. Das bereitet mir Sorgen.

Wie können denn die Löcher in der AHV fair und sinnvoll gestopft werden?
Ich frage mal ketzerisch: Müssen sie überhaupt gestopft werden? Andere Länder haben ihre Vorsorgewerke auch nicht saniert und dann tiefere Renten hingenommen. Wir könnten mit der AHV so weitermachen wie bisher, wir müssten aber eine Reduktion des Lebensstandards hinnehmen. Wollen wir das nicht und wollen wir uns gegenüber den nachfolgenden Generationen fair verhalten, dann können wir das Rentenalter anheben, was auch die grosse Mehrheit der OECD-Staaten schon gemacht hat. Dabei könnte das Rentenalter für Berufsgruppen, die eine höhere Lebenserwartung aufweisen – dazu gehören auch Banken –, deutlich schneller ansteigen als für Berufsgruppen, bei denen tiefe Löhne und schwere physische Arbeit zu einer tieferen Rentenbezugszeit führen. Politisch müsste sich für eine solche soziale Lösung eigentlich eine Mehrheit finden lassen.

Deutlich schwieriger wird es politisch, wenn wir die AHV nach dem Verursacherprinzip sanieren. Die Frage, weshalb Personen, die keine oder nur ein Kind haben, denselben Anspruch auf eine AHV-Rente haben wie diejenigen mit mehreren Kindern, ist unbequem. Dennoch sollten wir sie uns stellen. Finden wir es richtig, dass Eltern in der Schweiz systematisch ärmer sind als Kinderlose, während des Erwerbslebens und während der Rente?

Wie beurteilen Sie denn die Situation bei den Pensionskassen?
Die 2. Säule soll ja im Unterschied zur 1. Säule kapitalgedeckt sein. Die erste Problematik ist, dass wir eine längere Lebenserwartung und damit einen längeren Rentenbezug haben, dass wir aber nicht länger Zeit haben, um Kapital anzusparen. Es ist klar, dass an der Senkung des Umwandlungssatzes kein Weg vorbeiführt. Die bisherigen Senkungen sind viel zu spät vorgenommen worden. Wir haben etwa fünfzehn Jahrgänge mit einem viel zu hohen Umwandlungssatz verrentet. Richtig wäre heute eigentlich ein Umwandlungssatz von 4 Prozent bis 4,5 Prozent. Wenn wir die heutigen Negativzinsen mitberücksichtigen, müsste der Umwandlungssatz risikoadjustiert gar unter 4 Prozent liegen.

Das zweite Problem sind die Negativzinsen, die Pensionskassen heute auf ihre Liquidität bezahlen. Dank der hohen Obligationenrenditen der vergangenen Jahre war diese Belastung verkraftbar. Die Auswirkungen der Negativzinsen auf die 2. Säule werden erst in den kommenden Jahren wirklich spürbar werden, wenn das Zinsniveau nicht weiter sinkt und somit auch die Obligationen keine Rendite abwerfen. Deshalb sind auch in der 2. Säule echte und nachhaltige Reformen dringend nötig.

Was halten Sie denn von der von Bundesrat und Sozialpartnern vorgeschlagenen Reform der 2. Säule?
Ganz ehrlich: Der Vernehmlassungsentwurf für die Reform der beruflichen Vorsorge bereitet mir Sorgen. Das grosse Problem in der 2. Säule ist nämlich die riesige Umverteilung von Erwerbstätigen zu Rentnern aufgrund des zu hohen Umwandlungssatzes. Nun sieht der Vorschlag vor, den BVG-Umwandlungssatz von 6,8 auf 6,0 Prozent zu reduzieren. Erst mal ist diese Reduktion politisch bedingt viel zu klein. Vor allem wird aber – für mich verblüffend – eine Kompensation vorgeschlagen, die über zusätzliche Lohnbeiträge finanziert werden soll. Da auch überobligatorisch Versicherte, die von der Reduktion des BVG-Umwandlungssatzes gar nicht betroffen sind, diese Kompensation erhalten, wird die Umverteilung nicht reduziert, sondern sogar gesetzlich verankert und ausgeweitet. Damit lösen wir die Probleme in der 2. Säule nicht. Dabei gibt es gute Alternativvorschläge, zum Beispiel denjenigen des Pensionskassenverbands ASIP oder – ähnlich, aber politisch etwas verdaubarer – denjenigen der «Allianz für einen vernünftigen Mittelweg», den auch Arbeitgeber Banken unterstützt.

Und die 3. Säule? Gibt es auch in der privaten Vorsorge Probleme?
Nun, in der 3. Säule darf ja in Aktien, Anleihen und Immobilien investiert werden. Das hat in den vergangenen Jahren auch wunderbar rentiert. Das Problem ist nur, dass ein Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer immer noch in Zinskonten investiert und so keine Renditen mehr erzielt. Die Herausforderung in der privaten Vorsorge ist also, richtig zu investieren. Da in der 3. Säule die Anlagen während Jahrzehnten gebunden sind, ist nicht die Volatilität an den Finanzmärkten das eigentliche Risiko, sondern der Kaufkraftverlust der 3a-Zinskonten durch Inflation. Es ist also zu hoffen, dass bei den Investitionen in der privaten Vorsorge ein Umdenken stattfindet.

Im Moment ist es populär, Nationalbank-Gelder für die Sanierung der 1. und der 2. Säule zu fordern. Was halten Sie davon?
Das ist natürlich verlockend, aber nicht nachhaltig. Aus meiner Sicht ist es nur unter einer Bedingung vorstellbar, zu erwägen, diese staatlichen Assets
beziehungsweise deren Erträge für laufende Ausgaben wie die Sanierung der Vorsorgewerke herbeizuziehen. Hätten wir in der Schweiz eine umfassende, moderne staatliche Bilanzierung, zum Beispiel nach den International Public Sector Accounting Standards, die beispielsweise in Neuseeland umgesetzt wurden, so würden alle Staatsvermögen und Erträge, aber auch alle staatlichen Verbindlichkeiten, inklusive der Finanzierungslöcher in den Sozialsystemen, transparent ausgewiesen und könnten strategisch bewirtschaftet werden. Solange diese Bilanzierung nicht sauber erfolgt, sind die SNB-Gelder meiner Ansicht nach tabu, denn wir können gar nicht einschätzen, ob dies eine gute oder eine dramatisch schlechte «Anlage» unseres Staatsgeldes darstellt.

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