Altersvorsorge am kritischen Scheideweg

Ein Beitrag von Arbeitgeber-Banken-Direktor Dr. Balz Stückelberger zu den Abstimmungen vom 3. März 2024.

Mit der Überalterung der Gesellschaft erlebt das Alter eine Renaissance. Es gilt nicht mehr als Phase der Erkrankung und Verarmung. Im Gegenteil: Wir sind im Alter heute länger aktiv, selbstbestimmt und kreativ sowie wohlhabender und weniger von Armut betroffen als je zuvor. Zudem trägt die ältere Bevölkerung bedeutend zum politischen und gesellschaftlichen Leben bei. Unweigerlich entstehen dabei aber auch Schwierigkeiten: Die Gesellschaft hat sich schnell an die neue Realität eines längeren, gesünderen Lebens mit weniger Kindern angepasst, doch die Sozialversicherungssysteme haben diesen Wandel nicht vollzogen. So stecken die Umlagesysteme in der Klemme und es klaffen gewaltige Finanzierungslücken. Die beiden Abstimmungen zur Altersvorsorge vom 3. März 2024 stellen einen Scheideweg für die Schweiz dar. An der Urne werden die mittleren und älteren Generationen eine bedeutende Verantwortung für die Zukunft der Schweiz zeichnen.

Blick zurück: Die Geschichte der AHV

Die AHV wurde 1948 eingeführt. Damals war die Sechs-Tage-Woche die Norm und die Lebenserwartung bei Geburt entsprach dem Rentenalter von 65 Jahren. Angesichts der damals tiefen Renten – die Minimalrente betrug in heutiger Kaufkraft bemessen monatlich lediglich 194 Franken1 - blieben auch Personen über 65 Jahre noch erwerbstätig und waren von ihren direkten Nachkommen abhängig. Erst in den darauffolgenden Jahrzehnten sollte sich die Situation der Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz deutlichverbessern.

Mit der Einführung der Ergänzungsleistungen 1966 und den starken Erhöhungen der AHV-Renten in den 1970er Jahren wurde die AHV, zusammen mit den Ergänzungsleistungen, ihrem Verfassungsziel der Existenzsicherung schliesslich gerecht2. Zeitgleich sanken die Geburtenraten von noch 2,5 Kinder pro Paar Mitte der 1960er-Jahre auf 1,5 Kinder pro Paar Ende der 1970er-Jahre (Abbildung 1). Zunächst führten die wenigen Kinder zu einer demografischen Dividende, der der rasant steigende Wohlstand der Nachkriegsgenerationen zu einem gewichtigen Teil zu verdanken ist. Der Schweizer Staat musste aufgrund der tiefen Geburtenraten ab den 1970er Jahren weniger in Bildung und in die medizinische Versorgung der Kinder investieren, der Steuerbedarf war geringer. Mehr Erwachsene standen dem Arbeitsmarkt aufgrund geringerer Betreuungsverantwortlichkeiten zur Verfügung, was die privatwirtschaftlichen Einkommen und Steuereinnahmen erhöhte. Die Einführung der obligatorischen 2. Säule im Jahr 1985 und der freiwilligen Säule3a im Jahr 1987 stärkte zusätzlich die Vorsorgevermögen der Nachkriegsgenerationen.

Abbildung 1: Tiefe Geburtenraten folgten schnell auf existenzsichernde Umlageverfahren. Zusammengefasste Geburtenziffer und Ersatz der Elterngeneration, 1876-2020. BFS, 2022

Zurück in die Gegenwart: Hoher Wohlstand und tiefe Armutsquoten im Rentenalter

Zwar liest man heute in den Medien von scheinbar verbreiteter Altersarmut, doch die Statistiken zeichnen ein anderes Bild. Über 65-Jährige weisen gegenwärtig die höchsten Vermögen3, die grösste Zufriedenheit in Bezug auf ihre finanzielle Situation4 und die tiefsten Quoten der materiellen Entbehrung5 unter allen Generationen auf (Abbildung 2). Im Alter sind wir zudem gesünder und aktiver als je zuvor. Der Grossteil des privaten Kapitals der Schweiz liegt heute in den Händen der über 55-Jährigen und dies wird auch künftig der Fall sein, da Erbschaften in der Regel an über 55-jährige Nachkommen fliessen. Diese Generationen tragen wegen ihrer finanziellen Stärke, aber auch wegen ihres Gewichts an der Urne, für die Zukunft der Schweiz eine besondere Verantwortung.

Abbildung 2: Ältere Jahrgänge haben höhere Vermögen und tiefere Armutsquoten. Quote der materiellen Entbehrung nach Alter, in Prozent. BFS, 2022

Keine Kinder zahlen keine Renten

Die zwingende Kehrseite der Medaille der demografischen Dividende und des entstandenen Wohlstands ist das demografische Defizit. Kommen die geburtenstarken Jahrgänge mit wenigen Nachkommen ins Rentenalter, so fehlen Arbeits- und Fachkräfte sowie Steuer-, AHV-Beitrags-und Prämieneinnahmen, um die älteren Jahrgänge zu finanzieren. Die Zunahme der Anzahl Personen über 65 Jahre bei stagnierender Personenzahl im Alter zwischen 20 und 65 Jahren (Abbildung 3) wird ein wachsendes Missverhältnis bewirken zwischen der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der im Umlageverfahren finanzierten Sozialsystemen, zu denen neben der AHV insbesondere auch die Gesundheit und Pflege zählt.

Abbildung 3: Die Schweizer Bevölkerung wächst (fast) nur noch ab Alter 65. Anstieg der Altersgruppen im Referenzszenario der Bevölkerungsentwicklung des BFS(indexiert 2019 = 100). BFS, 2022

Die wachsende, hungrige AHV kommt nach Bern

Allein in den kommenden 27 Jahren fehlen in der AHV rund 130 Milliarden Franken6. Dies entspricht der finanziellen Zusatzbelastung, die die Schweizer Bevölkerung zusätzlich zur aktuellen Abgabenlast im gesetzlichen Status Quo für die AHV aufbringen muss. Dabei schreckt die Grössenordnung auf: Mit diesen Beträgen wäre der Gotthardbasistunnel mehr als zehn Mal gebaut. Den jährlichen interkantonalen Finanzausgleich oder die jährlichen Militärausgaben könnte man damit mehr als 20-fach ausfinanzieren.

Neben diesem Fehlbetrag wird im Bundeshaushalt die AHV einen stetig wachsenden Teil der Steuereinnahmen für sich beanspruchen. Flossen im Jahr 1990 etwa 10 Prozent der gesamten ordentlichen Bundesausgaben in die Alterssicherung, so sind es aktuell 17 Prozent – der grösste Einzelposten des ganzen Bundesbudgets. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung und ohne Steuererhöhungen für den Bund könnte die AHV bis 2030 bereits 20 Prozent der Bundesausgaben ausmachen. Berücksichtigt man die Ergänzungsleistungen an Rentnerinnen und Rentner, so sind die 20 Prozent schon erreicht. Als gebundene (das heisst obligatorische) Ausgabe werden die rasant wachsenden AHV-Kosten andere Staatsausgaben verdrängen und zu Sparmassnahmen zwingen – unter anderem bei der Energiewende, bei den Agrarsubventionen, bei Bildung und Forschung und bei der Finanzierung der Kinderbetreuung. Da nicht-gebundene Ausgabenbereiche der AHV werden weichen müssen, wird sich der Verteilkampf verschärfen.

13. AHV-Rente nachdem Giesskannenprinzip

Für Rentnerinnen und Rentner mag die Idee einer 13. AHV-Rente im ersten Augenblick verlockend scheinen. In Kenntnis des heutigen relativen höheren Wohlstands und der tieferen Armutsquoten der älteren Generationen sowie der gegebenen Finanzierungslücken der AHV in den kommenden Jahrzehnten steht die Gewerkschaftsinitiative «für eine 13.-AHV-Rente» aber quer im Raum.

Die Initiative löst kein einziges Problem in der AHV. Zum Beispiel erhöht sie die AHV-Maximalrenten um mehr als die AHV-Minimalrenten. Die 73 Prozent7 der Rentnerinnen und Rentner, die heute schon zufrieden oder sehr zufrieden mit ihren Renten sind – unter ihnen auch die Mehrheit der Schweizer Millionäre – würden meist einen höheren Zuschlag erhalten als die alleinstehende Mutter im Rentenalter.

Die jährlichen Kosten der 13. AHV-Rente lägen zu Beginn bei etwa 4,1 Milliarden Franken pro Jahr. Stünde dieser Betrag im Bundeshaushalt jährlich zur Verfügung, würde er nach Schätzungen zur vollständigen Finanzierung der dringend benötigten Energiewende ausreichen. Die Kosten der 13. AHV-Rente steigen wegen der Alterung der Bevölkerung jedoch noch weiter an. Das projizierte jährliche AHV-Umlagedefizit im Jahr 2032 würde rund 7 Milliarden Franken betragen und bis 2050 je nach Szenario auf 14 bis 18 Milliarden Franken anwachsen8. Das wären bis zu eineinhalb Gotthardbasistunnel pro Jahr an fehlender Finanzierung oder zusätzliche 2,7 bis 4,1 Mehrwertsteuerprozentpunkte – mit erheblichen Auswirkungen auf den Lebensstandard der Erwerbsbevölkerung und einer Schwächung des Wirtschaftswachstums.

Fazit: Eine 13. AHV-Rente entzieht der Erwerbsbevölkerung Kaufkraft und senkt ihren Lebensstandard deutlich. Mit der Giesskanne würden auch wohlhabende Millionäre mehr Rente erhalten, während die Bedürftigsten unten den Rentnerinnen und Rentnern im Durchschnitt weniger profitieren würden. Die Initiative ist sowohl innerhalb der Rentnergeneration als auch gegenüber den jungen Generationen, die die Zusatzlast tragen, ungerecht.

Von drei Optionen erhält nur eine den Wohlstand

Ganz im Gegensatz zur 13. AHV-Rente sollten erst die Finanzierung der bestehenden AHV-Rentenversprechen gesichert und die Finanzierungslücken geschlossen werden. Dafür gibt es genau drei Möglichkeiten:

  1. Der Wohlstand der jungen Generationen wird gesenkt durch Erhöhung bestehender Steuern, Abgaben oder Beiträge oder Einführung neuer Steuern oder Abgaben9.
  2. Der Wohlstand der Rentnerinnen und Rentner wird gesenkt durch Rentenkürzungen.
  3. Der Wohlstand aller Generationen wird erhalten durch eine leicht verlängerte Erwerbsdauer.

Die dritte Option stellt die einzige Möglichkeit dar, den Wohlstand aller Generationen in der Schweiz zu erhalten. Schon eine langsame und moderate Anhebung des Rentenalters durch eine Anknüpfung an die Lebenserwartung, wie sie in der «Renteninitiative» der Jungfreisinnigen vorgeschlagen wird und am 3. März 2024 ebenfalls zur Abstimmung kommt, würde die AHV langfristig vollständig finanzieren. Zwar würden nach Schätzungen des BSV in den 2030er-Jahren aufgrund der Verrentung der Babyboomer zeitweise Umlagedefizite verzeichnet, spätere Überschüsse würden diese aber kompensieren. Langfristig entstünde sogar ein leichter Überschuss in der AHV, der für gewisse soziale Kompensationen im Sinne eines früheren Rentenalters für ausgewählte Gruppen genutzt werden könnte10.

Für die Babyboomer würde die Annahme der Renteninitiative eine Verlängerung des Erwerbslebens um einige Monate bedeuten. Eine heute 50-jährige Person der Generation X müsste voraussichtlich etwa 15 Monate länger arbeiten. Angesichts der schon um mehr als zehn Jahre längeren Rentenbezugszeit, die wir im Vergleich zu unseren Grosseltern geniessen werden, scheint dies ein fairer Beitrag. Im Gegenzug wüssten wir, dass unsere AHV-Renten langfristig gesichert sind.

Bleibt die Schweiz für Unternehmen und junge Menschen attraktiv? Oder wird sie zur Gerontokratie?

Die Schweiz hat eine lange Tradition, populistische Initiativen, die den Wohlstand der Schweiz gefährden, als solche zu erkennen und abzulehnen, wie beispielsweise die Initiative «6 Wochen Ferien für alle» im Jahr 2012. Doch der Wandel in der Bevölkerungsstruktur wirft Fragen auf – heute sind etwa 70 Prozent der Abstimmenden über 50 Jahrealt. Stimmen diese bei Fragen der Umverteilung zwischen den Generationen gemäss ihrem Eigeninteresse, so riskiert die direkte Demokratie, für die jungen Menschen der Schweiz zur Diktatur zu werden. Zur Erhaltung der Generationengerechtigkeit ist die 13. AHV-Rente abzulehnen. Wollen wir zudem die Renten für alle Jahrgänge – ob jung oder alt – sichern und den Wohlstand aller Generationen erhalten, so müssen wir die Renteninitiative dringend annehmen.

Nie zuvor hatten die mittleren und älteren Generationen an der Urne eine grössere Verantwortung für die Zukunft der Schweiz inne als bei diesen Abstimmungen vom 3. März 2024.

Quellennachweise:

1Die Minimalrente betrug 40 Franken, was unter Berücksichtigung der Teuerung einer Kaufkraft von heutzutage 194 Franken entspricht. Die Geschichte der AHV, BSV, 2023.

2Die Geschichte der AHV, BSV, 2023.

3Studie Universität Genf, 2022.

4Umfrage BFS, 2022.

5Armutsstatistik der materiellen Entbehrung, BFS, 2022.

6SGK-N, 2022: Auswirkungen einer Annahme der Initiative für eine13. AHV-Rente auf die Finanzen der AHV bis ins Jahr 2050.

7BSV, 2022.

8SGK-N, 2022: Auswirkungen einer Annahme der Initiative für eine13. AHV-Rente auf die Finanzen der AHV bis ins Jahr 2050.

9Auch die direkte Nutzung von Nationalbankgewinnen stellt lediglich einen Entzug der Kaufkraft von den Erwerbstätigen dar, da die Gewinne ansonsten an Bund und Kantone ausgezahlt würden, was den Bedarf an Steuererhöhungen reduzieren würde.

10«AHV 2030 – Szenarien zum Rentenalter», Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg im Breisgau (FZG), UBS, 2023.

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